Illustration eines Tempolimitschilds

Einhundertdreißig Kilometer pro Stunde

Der Mythos um die asphaltierte Freiheit.

Schon alleine die Nennung dieser Maßeinheit dürfte bei manchen den kalten Schweiß auf die Stirn treten lassen und Zuckungen verursachen. Inklusive eines aufkeimenden Grolls gegen Politik, Wissenschaft und sonstige „Klimaspinner“. Mehr noch - die Selbstbestimmung ist in Gefahr. Oder - wie der ADAC 1973 nach dem Höhepunkt der damaligen Ölkrise und den vier (sic!) autofreien Sonntagen forderte: „Freie Fahrt für freie Bürger!“

Ein Jubiläum und eine vertane Chance

Das wiederum brachte das vom damaligen Bundesverkehrsminister Lauritz Lauritzen initiierte Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen ins Wanken. Unnötig zu erwähnen, dass neben dem ADAC ebenso die Bild-Zeitung an der Kampagne, die sich teilweise persönlich gegen Lauritzen richtete, beteiligt war. Das Tempolimit wurde im März 1974 aufgehoben.

Zum 50. Jubiläum dieser Aktion kann man nur sagen: Glückwunsch. Klasse gemacht. Nicht.

Übrigens begründete der ADAC damals gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“ seinen Slogan wie folgt: „Das eigene Auto gibt dem Menschen Beweglichkeit, Unabhängigkeit und Freiheit. Es ist daher wesentlicher Bestandteil einer jedermann zustehenden besseren Lebensqualität.“

Vielleicht mag es hier nur mir so gehen, aber die Begründung liest sich wie ein Lobgesang auf die Automobilindustrie. Gut, wenn die Mitglieder zu 100 % aus Autofahrenden besteht, wäre alles andere eher abwegig. Und „Sicher und entspannt ankommen.“, als Slogan, ja da fehlt die nötige Menge Populismus. Sehe ich ein. Aber gut - 50 Jahre her. Chance vertan. Wieder mal. Vielleicht war die Menschheit in einer alternativen Zeitlinie schlauer.

Einmal Mond, wieder zurück und noch mal hin. Unfallfrei.

Doch halt. Bevor jetzt Stimmen laut werden, ein kleiner Einblick in die eigene Mobilitätsgeschichte:

Mein erstes Auto war ein Opel Kadett D. Baujahr 1983, 44 kW (60 PS) mit Choke, welches ich günstig von einer älteren Dame übernommen habe. Garagenfahrzeug. Scheckheft gepflegt und hatte nur zum Einkaufen das Tageslicht gesehen. Ein Klassiker.

Danach folgten Toyota Yaris, Toyota Aygo, Seat Leon ST (2 x) und Cupra Leon ST. Aktuell ist es ein VW Caddy V California. Man wird schließlich nicht jünger. Und Fotoausrüstung nimmt mitunter mehr Platz ein, als man denkt. Außerdem ist Camping/Vanlife - meiner Meinung nach die schönste Form des Reisens.

Zwischenzeitlich gab es dann noch ein Zweirad: Kawasaki Zephyr 750. Baujahr 1994. Import aus Kanada. Auch schön.

Jedenfalls kann ich 27 Jahre unfallfreies Fahren mit einer Gesamtstrecke von über 900.000 Kilometern durch ganz Europa vorweisen. Diverse Fahrzeugtypen, Kraftstoffarten (inkl. E-Mobilität) sowie keine Punkte beim Kraftfahrt-Bundesamt. Außerdem Leihwagen, Flugreisen (ein paar) und Bahnfahrten (das ist eine andere Geschichte). Das sollte ausreichend sein, um mich zum Themenkomplex äußern zu können. Man möge bitte die imaginären Fackeln und Mistgabeln wieder verstauen.

Die linke Spur. Ein Blech gewordener Fiebertraum.

Das Autobahnnetz Deutschlands ist mit über 13.000 Kilometern das viertlängste der Welt. Nach China, den USA und Spanien. Nach meiner Rechnung hätte ich also jeden Meter Autobahn rund 69 Mal befahren. Hierzu fällt wenn mir die Szene aus Blues Brothers (1980) ein, in der Elwood zu Jake meint: „Es sind 106 Meilen bis Chicago, wir haben einen vollen Tank, eine halbe Packung Zigaretten, es ist Nacht und wir tragen Sonnenbrillen.“

Ja, ich bin gerne auf der Straße. Unterwegs. Genieße es, die Landschaft vorbeiziehen zu sehen und mitunter auch Neues zu entdecken. Wäre da nicht … ‚VROOOM!’ - A81. Weinsberger Kreuz. Kurz nach einer Baustelle, 120er Zone. An mir zieht ein schwarzer SUV mit 160 km/h, Tendenz steigend vorbei. AMG GLS 63. Über 600 Pferdestärken bei einem Gewicht von 2,7 Tonnen. 13,5 Liter Verbrauch (lt. Hersteller; kaufe ich aber bei der erlebten Fahrweise nicht ab). Kostenpunkt: ca. 190.000 Euro. Ein Irrsinn.

Kurz darauf sehe ich im Rückspiegel das Fabrikat eines bayerischen Automobilherstellers zum Überholen ansetzen. Natürlich kann man den Beschleunigungsrausch des Mercedes nicht so einfach auf sich sitzen lassen. Deswegen: rasanter, blinkerloser Spurwechsel unterhalb des Sicherheitsabstands.

Einschub: Ich glaube ja immer noch, dass alle Modelle dieses und vergleichbarer anderer Hersteller ohne „Blinkerflüssigkeit“ ausgeliefert werden und man zusätzlich das entsprechende Kapitel zum Auffüllen im Bordbuch vergessen hat.

Wie auch immer; der BMW schießt an mir vorbei, seiner auserkorenen Beute hinterher. Ich sehe noch das Typenschild: M5 und ein E-Kennzeichen, welches mir in diesem Moment wie blanker Hohn vorkommt in Anbetracht einer angegebenen Leistung von 727 PS (von denen 585 PS vom Verbrennungsmotor kommen).

Dass ich auf dem Rückweg dann von einem Pick-up überholt wurde, auf dessen hinterer Scheibe die Werbefolierung eines Nagelstudios prangte, sei nur am Rande erwähnt; komplettiert aber das Gesamtbild.

Einzelfälle, bedauerliche

Fassen wir zusammen: Ignorieren von Tempolimits und Sicherheitsabständen, kein Anzeigen eines Fahrspurwechsels und Automodelle, die hinsichtlich Leistung und Verbrauch so gar nicht in die heutige Zeit passen. Ist das dieses Freiheitsgefühl, von dem alle reden? Wäre nicht Gleichgültigkeit in diesem Fall passender?

Natürlich sind meine Beispiele nur „bedauerliche Einzelfälle“. In keiner Weise möchte pauschalisierend wirken oder gar die Automobilindustrie an den Pranger stellen. Die Nachfrage regelt das Angebot, oder? Offensichtlich sitzt das Geld für PS-Boliden und Ungetüme aus Stahl, die man ohne weiteres auch bei UN-Friedensmissionen einsetzen könnte, recht locker. Oder vielmehr sind die Leasing-Raten (viel zu) günstig.

Und jetzt? Was ist der Plan für die Zukunft? Machen wir weiter wie bisher? Wenn man sich die Mitteilung des Volkswagen-Konzerns ansieht: Jein. Neben geplanten 120 Milliarden Euro an Investitionen in Elektromobilität hat irgendjemand noch 60 Milliarden für die Entwicklung neuer Verbrenner-Modelle gefunden. Chapeau!

Thesenanschlag an der Raststätten-Toiletten-Tür

Tempolimit rettet Leben.

Frankreichs drittgrößte Stadt Lyon meldet nach Einführung eines Tempolimits innerorts auf 30 Stundenkilometer folgende Bilanz: 35 % weniger Verkehrsunfälle und 39 % weniger Schwerverletzte und Tote. In Deutschland lag die Zahl der Unfälle 2023 durch nicht angepasste Geschwindigkeit und ungenügender Abstand bei 83.290 (24 % der gesamten Unfälle).

Tempolimit rettet den Planeten.

Das Umweltbundesamt hat berechnet, dass ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf Autobahnen ungefähr 4,5 Millionen Tonnen CO2 einsparen würde. In Kombination von 80 Stundenkilometern auf Landstraßen sogar 5,3 Millionen Tonnen. Jährlich.

Tempolimit spart Sprit.

Der Bedarf an Ottokraftstoffen in Deutschland lag 2023 bei 17,4 Millionen Tonnen (416.000 Tonnen mehr als 2022). Wenn man diesen Wert umrechnet (1 Liter entspricht ca. 750 g), ergibt das eine kompakte Zahl über 23 Milliarden Litern. Bei einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern könnte man 600 Millionen Liter davon einsparen. Bei 100 Stundenkilometern sogar 1,7 Milliarden Liter.

Tempolimit definiert die Automobilindustrie neu.

An dieser Stelle des Thesenanschlags kommt ein hypothetisches Szenario: Nehmen wir an, es existiert ein Tempolimit. Brauchen wir dann immer größere und leistungsstärkere Pkw-Modelle? Am konkreten Beispiel 500+ PS SUVs, Sportwagen etc.? Nein, natürlich nicht. Wird es Gewinneinbrüche bei den Herstellern in diesem Preissegment geben? Davon ist auszugehen. Vielleicht besinnt man sich dann wieder auf Kernwerte. Fortbewegungsmittel zu schaffen, die bezahlbar, sicher und - ja, die Klimakatastrophe gibts immer noch umweltfreundlich sind. Auf der anderen Seite - warum kommt da kein Umdenken? Ist die Gier wirklich so groß, dass einem der Planet vollkommen egal ist? Und - wie steht es denn um das Thema Wasserstoff/Brennstoffzellen? Hatte da Daimler-Benz nicht schon 1994 vielversprechend daran geforscht?

Fazit

Es spricht also nichts gegen ein Tempolimit. Selbst der ADAC. Ja, genau! Wir erinnern uns - die, welche das Tempolimit von 1973 gekippt hatten. Deren Mitglieder sprachen sich in einer aktuellen Umfrage überwiegend für ein dafür aus. Es folgt der Verband der Automobilindustrie, der u. a. ein Positionspapier mit dem griffigen Titel „Fakten gegen ein generelles Tempolimit“ herausgebracht hat. Die Interpretation des Inhalts ist … eine andere Geschichte.

„Von der Wissenschaft wirds da kein Hindernis geben. Je schneller, umso besser. Bei der Einführung des Tempolimits, da gibts kein Tempolimit.“

— Harald Lesch

Bliebe noch die Einnahmen durch die Energiesteuer (bis 2006 Mineralölsteuer). Die lagen 2023 bei 36,7 Millionen Euro. Damit kann man viel bewegen. Nach Abzug des Fehlbetrags durch etwaige Kraftstoffeinsparungen aber immer noch. Liebe Mineralölkonzerne - das gilt auch für euch. Abschließend erinnern wir uns noch an Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), der die Nichtumsetzbarkeit des Tempolimits mit einem Schildermangel (sic!) erklärt …

Aber ich hätte einen Vorschlag, der geradezu verwegen ist: Vielleicht könnten alle Beteiligten aus Wirtschaft und Politik kurz die Klüngelei vergessen und anfangen, etwas für die Zukunft zu tun. Für die eigene, die der Nachkommen und den restlichen Bewohner des Planeten, auf dem unfassbar viel Geld verdient wurde. Und an Innovation, Forschergeist und Technik sollte es auch nicht mangeln, oder?

An dieser Stelle ende ich mit einem Zitat von Doc Brown aus Zurück in die Zukunft (1985): „Straßen? Wo wir hinfahren, brauchen wir keine Straßen.”

Machen wir das Beste draus. Und zwar schnell.

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