Empörung frisst Kontext

„Wir haben 2025 und ihr verkauft immer noch Leichen und Tierleidprodukte? Wie widerlich sowas ist, richtig ekelhaft – hoffentlich geht ihr schnell pleite.“

– Ein Kommentar bei Threads. Beliebig kopierbar, meist ohne Kontext gepostet.

Ich verstehe sie einfach nicht – diese selbst ernannten Hardcore-Veganer in den sozialen Medien. Der Tonfall, die Kompromisslosigkeit, die völlige Abwesenheit von Empathie. Ein Stück luftgetrockneter Schinken vom Dorfmetzger – und du bist der Feind.

Nachhaltigkeit? Herkunft? Handwerk? Egal. Fleisch ist Mord – und wer’s anders sieht, gehört gecancelt. Keine Grautöne mehr, kein Austausch. Nur noch Lautstärke.

So klingt sie, die neue Moral: absolut, selbstgerecht, oft vorgetragen wie ein Urteil ohne Berufungsinstanz. Differenzierung? Nicht vorgesehen. Wer nicht vegan lebt, hat den Planeten offenbar persönlich ruiniert.

Ich frage mich: Wann ist aus Haltung Hochmut geworden? Und wie lebt es sich in einer Welt, in der Komplexität durch Besserwisserei ersetzt wird? Vielleicht liegt die eigentliche Frage gar nicht beim Essen. Sondern bei unserem Umgang miteinander.

Vegan – oder verloren?

Keine Frage: Die Argumente für Veganismus sind stark. Weniger Tierleid, geringerer CO₂-Fußabdruck, effizienterer Ressourceneinsatz – alles valide. Wer sich pflanzenbasiert ernährt, tut vielen Dingen einen Gefallen. Auch und vor allem sich selbst und der Welt, die ohnehin lichterloh brennt. Aber was daraus mancherorts gemacht wird, erinnert mehr an Bekehrungsrituale als an mündige Konsumentscheidungen.

Ich spreche von jenen, die aus einer persönlichen Entscheidung ein globales Dogma stricken. Die aus dem eigenen Verzicht eine Waffe machen. Und aus Tofu eine Weltanschauung.

Man erkennt sie am Missionierungsblick. An der Fähigkeit, jedes noch so entspannte Gespräch über Essen in eine ethische Anklagebank zu verwandeln. Und daran, dass sie auf Instagram gern mit dem Hashtag #WokeAF ihre selbstgemachten Lupinen-Bowls posten – natürlich nachhaltig fotografiert im Morgenlicht. Nebelschwaden über dem See hinter dem Haus. Und dabei mag ich Kichererbsen ganz gerne.

Der moralische Imperativ des Reiswaffelregimes

Es geht längst nicht mehr um gute Ernährung. Sondern um Erlösung. Nur wer vollständig verzichtet – auf Milch, Fleisch, Fisch, Eier, Honig, Leder, Wolle, Zwischentöne und Freunde mit abweichender Meinung – darf sich moralisch überlegen fühlen. Und urteilen. Laut, öffentlich, gnadenlos.

Ein Ei vom Hühnerhof nebenan? „Tierausbeutung!“
Ein Fischgericht mit Herkunftsnachweis? „Ökozid!“
Ein Lob auf ehrliches Handwerk? „Greenwashing!“

Die neue Moral duldet keine Grauzonen. Kein Nachdenken, kein Verstehen. Wer differenziert, verrät die Sache. Wer nicht 100 % mitzieht, ist raus – gecancelt, blockiert, überrollt von digitaler Empörung.

Dabei ging es doch mal um Bewusstsein. Um Verantwortung. Um Wandel.

Jetzt geht es um Reinheit. Um Kontrolle. Um Ausschluss.

Und ich frage mich: Was bleibt übrig von einer Bewegung, die alles Gute nur noch im Absoluten sieht – und alle anderen im Unrecht?

Zwischen Avocado-Ambivalenz und Mandelmilch-Moral

Natürlich ist vegane Ernährung nicht automatisch klimaneutral. Avocados aus Mexiko mit miserabler Wasserbilanz. Mandeln aus Kalifornien, die Böden auslaugen und Bienenpopulationen gefährden. Soja, angebaut auf Flächen gerodeten Urwalds. Aber hey – Hauptsache vegan, oder?

Ein Ei vom Biobauern um die Ecke? Regional, transparent, mit Blick auf Tierwohl produziert. Fühlt sich besser an. Ist oft ökologisch vertretbarer. Doch wehe, du sprichst das laut aus. Dann bist du schneller „Teil des Problems“ als du „Freilandhaltung“ buchstabieren kannst.

Was zählt, ist nicht Wirkung – sondern Symbolik. Nicht der reale Fußabdruck, sondern das richtige Etikett. Komplexität wird ausgeblendet, moralische Überzeugung durch Lifestyle ersetzt. Einfachheit ersetzt Entscheidung.

Und so bleibt Differenzierung auf der Strecke. Weil es bequemer ist, sich an Schlagworte zu klammern, als sich wirklich mit der Welt auseinanderzusetzen.

Was das konkret heißt? Für mich: Fragen stellen. Herausfinden, woher mein Essen kommt. Wer daran verdient – und wer dafür leidet. Nicht perfekt, nicht immer, aber öfter. Bewusster. Kritischer. Weil Verantwortung nicht mit dem Bezahlen an der Kasse endet. Weil „gut gemeint“ nicht immer „gut gemacht“ bedeutet.

Die Missionare unter den Veganer:innen

Ich meine damit nicht alle Veganer:innen. Viele sind reflektiert, offen im Austausch und suchen genau wie ich nach besseren Wegen. Aber es gibt eben auch jene, die auf einer Art Kreuzzug unterwegs sind. Die mit religiösem Eifer predigen, missionieren und verurteilen. Für die ein Bio-Ei vom Nachbarhof schlimmer ist als ein industrielles Fertigprodukt, solange es vegan ist.

Diese Haltung ist nicht nur arrogant – sie ist unproduktiv. Weil sie keine Brücken baut, sondern Gräben zieht. Weil sie nicht überzeugt, sondern ausgrenzt. Und weil sie genau die Differenzierung verweigert, die heute mehr denn je nötig wäre.

Denn das Problem ist nicht das tierische Produkt. Das Problem ist der Glaube, man selbst sei frei von Widersprüchen.

Vom Wert regionaler Verantwortung

Ich halte viel von veganer Küche. Sie ist kreativ, vielfältig und kann ein wichtiger Hebel sein, um unser Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten.

Ein Erlebnis des letzten Roadtrips auf dem Rückweg von der re:publica (übrigens mit einem sehr guten Nachhaltigkeitsansatz) bestätigt das: Beim Zwischenstopp in Dresden sind wir auf die Vegane Fleischerei gestoßen – ein kleiner Laden mit großer Idee. Alles komplett pflanzlich, aber handwerklich gemacht, gut gewürzt, überraschend authentisch im Geschmack. Superlecker und ein guter Ansatz. Sehr zu empfehlen.

Aber ich halte auch viel von regionalen, handwerklich produzierten Tierprodukten – wenn sie unter fairen, nachvollziehbaren Bedingungen entstehen. Ohne Tierleid, ohne Überproduktion, ohne industrielle Abhängigkeit. Produkte, die aus einer gelebten Beziehung zur Region, zum Handwerk und zur Natur entstehen.

Ein Beispiel? Die Fischküche Reck bei Erlangen. Ein Ort, der zeigt, wie man mit Respekt vor dem Produkt arbeitet. Wo Herkunft keine Marketingfloskel ist, sondern Teil der Philosophie. Hier wird nicht „bio“ geschrieben und billig eingekauft; Qualität entsteht durch Haltung. Im besten Sinne des Wortes.

Ethischer Konsum als Dialog – nicht als Dogma

Was wir brauchen, ist ein neues Verständnis von Verantwortung. Eines, das nicht auf absolute Reinheit zielt, sondern auf bewusste Entscheidungen. Keine ideologische Reinwaschung – sondern eine informierte, flexible, reflektierte Praxis.

Denn ja: Ich finde es legitim, tierische Produkte zu konsumieren – wenn dies mit Maß, mit Respekt und mit Blick auf Herkunft und Wirkung geschieht.

Nein, ich glaube nicht, dass man ein schlechter Mensch ist, weil man Käse isst. Und nein, ich brauche keine Lebensweise, die mir vorschreibt, wie ich zu leben habe – ohne meine Kontexte zu kennen.

Fazit: Haltung statt Heilsversprechen

Ich will keine Glaubenskriege ums Essen. Ich will mündige Entscheidungen. Ich will Grautöne, keine Glaubenssätze. Und ganz sicher keine moralischen Traktate in Hummusform.

Ja, Veganismus kann eine Lösung sein. Aber nicht die einzige. Und schon gar nicht die einzig „richtige“. Wer anderes behauptet, verwechselt Ethik mit Ideologie – und macht das Gespräch unmöglich. Oder wie es der große Ernährungsprophet des Absurden, Graham Chapman vielleicht formuliert hätte:

„Niemand erwartet die pflanzenbasierte Inquisition!“

Dabei geht’s doch genau darum: ums Gespräch. Um das Zuhören ohne sofortige Erwiderung. Um das Aushandeln im Unfertigen. Um Respekt – nicht trotz, sondern wegen der Unterschiede. Denn wenn Haltung zu Hochmut wird, verlieren wir einander. Und dann ist es nicht das Fleisch, das trennt – sondern der Ton.

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