
Lost and Found: Diversität, Popkultur und das Wutpotenzial der Gaming-Community
Ich bin 1979 geboren – mitten hinein in eine Welt aus bunten Pixeln, überdrehten Cartoons und VHS-Kassetten. Popkultur war mein Biotop. In der Musik lag die Rebellion, im Film das große Drama – und im Gaming? Da war es zunächst vor allem: Spaß. Bis Story kam. Und mit ihr: Identität. Haltung. Diversität.
Kürzlich habe ich großartige „Lost Records: Bloom & Rage“ von DONTNOD gespielt. Ich bin Fan der ersten Stunde. „Life is Strange“ (2015) war für mich wie ein Befreiungsschlag im Gaming – endlich echte Menschen mit echten Geschichten: queer, verletzt, laut, leise, zweifelnd. Menschlich eben.
Dann ein Blick in die Xbox-Reviews. Bei „Tell Me Why“ (vom gleichen Entwickler) … BÄM – ein digitaler Schlag in die Magengrube: Feindlichkeit. Häme. Verachtung. „Ist mir zu … regenbogenlästig.“ „The story is pushing an agenda …“ oder „das hier ist echt Woker Mist.“ Ich war fassungslos. Und, um ehrlich zu sein: wütend.
DONTNOD und die Kunst des Storytellings
Wer DONTNOD kennt, weiß: Diese Spiele machen keine Kompromisse. Sie erzählen Geschichten, die berühren, wehtun, aufrütteln – und genau darin liegt ihre Kraft. Sie schaffen narrative Räume, in denen Identitäten nicht dekorativ im Hintergrund stehen, sondern das emotionale und dramaturgische Zentrum bilden. Sichtbarkeit ist hier kein Feigenblatt, sondern Fundament.
Ein Beispiel: „Tell Me Why“. Der erste große Titel mit einem trans Protagonisten in der Hauptrolle. Kein Klischee, keine Tragik-Schablone, keine stilisierte Randfigur. Sondern: ein Mensch mit Tiefe, Widersprüchen, Geschichte. Und: mit Würde. Punkt.
Was DONTNOD von anderen Studios unterscheidet, ist das Zusammenspiel von Ästhetik und Erzählhaltung. Die Spiele sind visuell ruhig, fast poetisch – gedeckte Farben, zurückhaltende Kameraführung, langsame Schnitte. Keine Effekthascherei. Stattdessen: Atmosphäre. Raum zum Atmen. Raum zum Fühlen.
Und genau da setzt das Storytelling an: Entscheidungen wie bei einem Choose-your-own-adventure-Buch – nur radikaler, emotionaler. Die Dialoge sind echt, verletzlich, oft unangenehm nah an der eigenen Realität. Es geht um Verlust, Identität, Trauma – aber nie um Voyeurismus. Sondern um Empathie.
Während viele Games Diversität leider immer noch als kosmetisches Add-on behandeln – ein Menüpunkt zur Auswahl – ist sie bei DONTNOD tief ins Rückgrat der Narrative eingewebt. Es geht nicht nur darum, gesehen zu werden. Sondern darum, verstanden zu werden.
Indie vs. Mainstream: Wer traut sich wirklich was?
Natürlich sind Studios wie DONTNOD, Supermassive Games („Until Dawn“), Quantic Dream („Detroit: Become Human“, „Heavy Rain“), CD Projekt Red („Witcher-Serie“, „Cyberpunk 2077“) oder auch das vergleichsweise junge Sandfall Interactive („Clair Obscur: Expedition 33“) längst keine Garagen-Startups mehr – ihre Produktionen bewegen sich im gehobenen Segment, oft mit Millionenbudgets. Und doch: Im Vergleich zu den AAA-Giganten wie Ubisoft, EA oder Activision Blizzard zeigen sie deutlich mehr narrative Risikobereitschaft. Während Letztere meist dem Massengeschmack nachlaufen, kalkuliert auf maximale Reichweite, trauen sich Erstere, Ecken und Kanten zu zeigen – auch auf die Gefahr hin, Polarisierung auszulösen.
Denn wer Diversität nicht nur als Checkliste, sondern als erzählerisches Prinzip versteht, setzt sich zwangsläufig Angriffen aus. Das Internet vergisst nichts – außer Empathie. Siehe Ubisoft: Über Jahre hinweg toxische Führungsstrukturen, homogenisierte Inhalte, praktisch keine sichtbare Repräsentation. Nicht aus Unvermögen, sondern weil man’s sich leisten konnte. Weil das System funktioniert hat. Für sie.
Unabhängige Studios hingegen mögen durchaus Zielgruppen analysieren oder Markttrends beobachten – aber nicht mit dem Ziel maximaler Gewinnabschöpfung, sondern um die eigene Vision wirkungsvoll zu vermitteln. Ihre Leitwährung ist nicht der Börsenkurs, sondern Resonanz. Ihre Überlebensstrategie: Haltung. Klarheit. Eine erkennbare Handschrift. Und ja – manchmal gewinnen sie damit nicht nur Kritikerpreise, sondern etwas viel Wertvolleres: Vertrauen. Verbundenheit. Eine Community, die nicht nur konsumiert, sondern mitfühlt, mitdenkt, mitwächst.
Gamer gegen Diversität – Warum eigentlich?
Um noch mal auf die Xbox-Reviews zu sprechen zu kommen: Woher stammt dieser Hass? Oberflächlich betrachtet geht es um Games. In Wahrheit ist es eine kulturelle Abwehrreaktion – ausgelöst durch eine tieferliegende Identitätskrise. Wenn weiße, heterosexuelle Cis-Männer plötzlich nicht mehr die exklusive Norm in virtuellen Welten sind, wird das von manchen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden. Repräsentation wird zur Reibung. Sichtbarkeit zur Provokation.
Denn wer es gewohnt ist, immer im Zentrum der Geschichte zu stehen, empfindet jede Form von Diversität schnell als „Agenda“. Was fehlt, ist nicht Sichtbarkeit, sondern Reflexion. Es ist nicht das Spiel, das politisch ist – es ist das eigene Weltbild, das ins Wanken gerät.
Verstärkt wird diese Abwehrhaltung durch die digitalen Echokammern von Reddit, YouTube & Co. Die Plattformen sind längst keine neutralen Räume mehr – sie sind Beschleuniger. Der Algorithmus filtert nach Aufmerksamkeit, nicht nach Wahrheit. Und Empörung ist der effizienteste Treibstoff. Jeder wütende Kommentar, jedes „Woke-Nonsense“-Video wird belohnt. Mit Klicks, Sichtbarkeit, Geld.
Das Ergebnis: Ein toxisches Klima, das echte Diskussionen verhindert. In dem Menschen nicht über Inhalte streiten, sondern über Existenzen. In dem Diversität nicht als Chance, sondern als Angriff wahrgenommen wird. Und in dem aus Spielen – eigentlich Räume für Empathie, Vorstellungskraft und Transformation – ideologische Schlachtfelder werden.
Popkultur im größeren Kontext
Ein Blick über die Gaming-Grenzen hinaus zeigt: Diversität ist längst in der Mitte der Popkultur angekommen – zumindest oberflächlich. Filme wie „Everything Everywhere All At Once“ oder Serien wie „Sex Education“ beweisen, dass Vielfalt nicht nur möglich, sondern auch erzählerisch stark, ästhetisch eigenwillig und kommerziell erfolgreich sein kann. Wenn sie aus Überzeugung erzählt wird – nicht aus Kalkül.
Und doch: Die Gegenbewegung lauert immer im Schatten. Disney schneidet queere Szenen für internationale Märkte – aus Rücksicht auf Zensurbehörden und konservative Publikumserwartungen. Netflix produziert inklusiv, ja – aber zahlt dafür regelmäßig mit Shitstorms, Review-Bombing und Boykottaufrufen. Sichtbarkeit wird gefeiert – und zugleich bestraft.
Was wir erleben, ist ein permanenter kultureller Aushandlungsprozess. Ein Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Reaktion. Zwischen Fortschritt und Backlash. Popkultur wird dabei zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Ängste und Hoffnungen. Sie reflektiert, was möglich ist – und zeigt zugleich, wo die Grenzen des Sagbaren (noch) liegen.
Die entscheidende Frage lautet nicht mehr: Ob Diversität in der Kultur stattfindet. Sondern: Wie ehrlich, wie konsequent, wie widerstandsfähig sie inszeniert wird.
Politik? Kapitalismus? Beides.
Diversität ist längst nicht mehr nur ein ideologisches Reizthema – sie ist ein wirtschaftliches Risiko. In einer Aufmerksamkeitsökonomie, die auf maximale Interaktion optimiert ist, wird Polarisierung zur Ware. Plattformen wie Meta, X (vormals Twitter) oder YouTube leben davon, dass Nutzer:innen klicken, kommentieren, teilen – und idealerweise: sich streiten. Der Algorithmus belohnt Kontroverse. Und Konfrontation ist das effektivste Mittel, um Sichtbarkeit zu erzeugen.
Diese Mechanik trifft besonders jene, die Repräsentation sichtbar machen. Ein queerer Charakter, eine Schwarze Protagonistin, eine feministische Storyline – all das wird in sozialen Netzwerken nicht als Einladung zur Diskussion gelesen, sondern als Kampfansage. Und dieser „Kampf“ wird ökonomisch ausgetragen: durch Review-Bombing, Shitstorms, Hashtags – und durch gezielte Mobilisierung rechter Empörungsnetzwerke, oft mit maschineller Verstärkung (Bots, Clickfarms, Astroturfing).
Die Plattformen selbst tragen eine Mitschuld. Ihre Geschäftsmodelle sind strukturell indifferent gegenüber Wahrheit oder Ethik – entscheidend ist nur das Engagement. YouTubes „Watch Next“-Algorithmus hat in Studien gezeigt, wie schnell er von harmlosen Inhalten zu Radikalisierungsschleifen führt. Facebooks eigene Forschungsabteilung hat bereits 2018 festgestellt: „Unsere Algorithmen befeuern Spaltung.“ Getan hat sich seitdem: wenig.
Für Medienunternehmen entsteht dadurch ein Dilemma: Wer progressiv erzählt, geht ein wirtschaftliches Risiko ein. Wer dem Mainstream folgt – oder bewusst provoziert – sichert sich Reichweite und Werbebudgets. Diversität wird so zur ökonomischen Gratwanderung.
Was wir hier sehen, ist ein systemisches Problem: Ein digitaler Kapitalismus, der Empathie nicht kennt, Ambivalenz nicht aushält – und in dem das Menschliche immer häufiger der Mechanik geopfert wird. Die Frage ist nicht nur: Wie wollen wir erzählen? Sondern: Unter welchen Bedingungen dürfen diese Geschichten überhaupt entstehen und überleben?
Fazit: Diversität gewinnt. Nicht sofort. Aber unausweichlich.
Und ja – ich bleibe Fan. Von DONTNOD. Von Geschichten, die nicht gefallen wollen, sondern etwas erzählen. Und von einer Popkultur, die den Mut hat, mehr zu sein als Eskapismus mit Hochglanzoberfläche.
Ich glaube nicht nur, dass Diversität gewinnt – ich weiß es. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Aber unausweichlich. Weil sie realer ist. Relevanter. Wahrhaftiger. Weil sie nicht spaltet, sondern verbindet – wenn man sie lässt.
An die, die sich davon bedroht fühlen: Ihr müsst nicht zuhören. Ihr müsst nicht mitspielen. Aber ihr müsst akzeptieren, dass die Welt größer ist als eure Komfortzone. Und dass Geschichten nicht euch gehören – sondern allen, die darin vorkommen.
Denn das eigentliche Problem ist nie die Vielfalt. Sondern die Weigerung, sie zu ertragen.
Und genau deshalb brauchen wir sie – mehr denn je.